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Shikhas Weg zum "Patient Twin"
Shikhas Weg zum "Patient Twin"
Vom Screen des Smartphones winkt eine digitale Miniatur-Shikha. Ein wenig ruckelig wirken ihre Bewegungen noch, doch die optische Ähnlichkeit zur „echten“ Shikha ist unübersehbar.
Der prüfende Blick der „echten“ Shikha pendelt währenddessen zwischen dem Smartphone mit dem Avatar und dem Screen ihres Rechners, auf dem sich Programmiercodes und Datenauswertungen zu kryptisch aussehenden Gebilden formen.
Shikha Chaganti ist Research and Technology Manager im Team „Digital Technology & Innovation“ bei Siemens Healthineers am Standort in Princeton im US-Bundesstaat New Jersey. Die heute 34-jährige gebürtige Inderin kam 2019 zu Siemens Healthineers. Das war kurz nachdem sie ihren Doktortitel in Computer Science, also Informatik, mit Spezialisierung auf medizinische Bildanalyse von der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, verliehen bekommen hatte.
Künstliche Intelligenz fasziniert mich. Es gibt praktisch nichts, was man damit nicht tun kann: Videospiele realistischer machen, Suchmaschinen und Business Outcomes optimieren, und natürlich: Die Medizintechnik noch intelligenter machen.
Shikha Chaganti
Research and Technology Manager bei Siemens Healthineers
Das Fokusthema des Teams in Princeton: Künstliche Intelligenz[1]. Seit Frühjahr 2021 leitet die Wissenschaftlerin das Forschungsprojekt „My Digital Twin“. Das ehrgeizige Ziel: Mit einer App fürs Mobiltelefon der Vision eines digitalen Patient*innenzwillings einen Schritt näher kommen.
Was ist Künstliche Intelligenz (KI)?
„Künstliche Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit von Computersystemen, auf sie zugeschnittene Aufgaben selbsttätig zu lösen, die aufgrund ihrer Komplexität bislang menschliche Fähigkeiten erforderten.“
Aber warum brauchen wir eine solche App? Und warum überhaupt wäre Patient Twinning eine erstrebenswerte Zukunftstechnologie?
„Im derzeitigen System ist der*die Patient*in oft der*die Hüter*in der eigenen medizinischen Daten“, erklärt Shikha im #Futureshaper-Interview: „Wenn ich als Patient*in Krankheitssymptome habe, muss ich häufig mehrere Spezialist*innen aufsuchen, bis ich die korrekte Diagnose bekomme. Ich muss Unmengen von Papier oder CDs mit Testergebnissen und Notizen von einem Arztbesuch zum nächsten mitnehmen. Ich muss mir genau merken, welche Symptome ich habe, wann ich sie zum ersten Mal bemerkt haben. Und ich muss die Ergebnisse der Tests weitergeben, die die vorherigen Spezialist*innen angeordnet hatten.“
Dieser Status quo birgt Risiken – denn nur ein*e Mediziner*in, der*die alle relevanten Informationen hat, kann eine exakte Diagnose stellen und die richtigen therapeutischen Maßnahmen einleiten: „Im schlimmsten Fall bekommen die Patient*innen die notwendige Therapie nicht rechtzeitig, was weit reichende Folgen haben kann.“
#Futureshaper:
Daten verbleiben in ihren „Silos“
Zwar würden heute schon gesundheitsbezogene Daten gesammelt, auch in Echtzeit, beispielsweise mithilfe einer Smartwatch, erklärt Shikha: „Wie aktiv warst du heute, wie viele Schritte bist du gegangen? Welche Herzfrequenz hast Du?“ Doch diese Daten verblieben in ihren eigenen, abgegrenzten Datensilos, so wie viele andere Daten, zum Beispiel aus medizinischer Bildgebung oder Labortests. Sie würden bislang nicht an einer zentralen Stelle zusammengebracht, um ganzheitliche Einblicke über den Gesundheitszustand der jeweiligen Person zu ermöglichen.
Es sei die Idee, reibungslos ineinandergreifende Prozesse zur Erfassung solcher Daten zu schaffen, so dass Informationen aus verschiedenen Quellen miteinander in Verbindung gesetzt werden können, um darin übergeordnete Muster zu erkennen. In dem digitalen Patient*innenmodell auf der App könnten einst alle Gesundheits- und Wellnessdaten der jeweiligen Person zusammengeführt werden: jederzeit und überall abrufbar – auch in Notfallsituationen, wenn es schnell gehen muss. Und kontinuierlich aktualisierbar – auf Wunsch lebenslang.
Was ist ein Datensilo?
Ein Avatar – generiert durch Künstliche Intelligenz
Design thinking
"Das Patient*innenmodell könnte sämtliche Gesundheitsdaten nutzen, die den Patient*innen zur Verfügung stehen, so dass sie bei ihrem Genesungsprozess individuell betreut werden können", sagt Shikha. Die App werde sich im Back End mit verschiedenen Datensilos verbinden, um ein möglichst umfassendes Bild der Gesundheits- und Wellnessdaten der Person zu ermöglichen. Zum Beispiel eben mit der Smartwatch, die in Echtzeit Informationen über physische Aktivität und Vitalzeichen liefert. Zudem wird die App den FHIR®[2] Standard unterstützen. Auf diese Weise wird sie sich mit PACS-Systemen in Kliniken verbinden können, um medizinische Bilddaten des*der Patient*in zu erhalten.
Was ist FHIR®?
- PACS steht für “Picture Archiving and Communication System”. Ein digitales System zur Verwaltung und Archivierung medizinischer Bilddaten aus bildgebenden Verfahren wie z.B. Röntgen, CT und MRT.
Auch mit EHR-Servern soll sich die App so verbinden können, so dass Daten über bereits erfolgte Untersuchungen, einzunehmende Medikamente, Laboruntersuchungen usw. mit in das digitale Patient*innenmodell einfließen.
Ergänzend kann der*die User*in eigene persönliche Daten manuell in die App eingeben, zum Beispiel eine Art „Gesundheitstagebuch“ über seinen*ihren aktuellen Gesundheitszustand und auftretende Symptome führen.
Wofür steht EHR?
Der Digital Twin wächst mit
Mit einigen Tipps mit dem Zeigefinger gibt Shikha in den Einstellungen der App neue Gewichtsdaten für den Avatar ein – und schon sorgt die KI dafür, dass er so aussieht, als hätte er ein paar Kilos zugenommen. Der Avatar lässt sich auf der Oberfläche analog zum echten Menschen verändern.
Auch im Hintergrund „wächst“ das Patient*innenmodell kontinuierlich in der digitalen Welt, gespeist von den Daten des*der User*in: Das personalisierte digitale Zwillingsmodell des*der User*in wird mit jeder neuen Untersuchung, jedem neuen medizinischen Datensatz aktualisiert. Jede für den Genesungsprozess relevante Information wird dynamisch upgedatet.
Nicht nur Daten sammeln – durch KI neue Einsichten generieren
Die KI soll den User*innen künftig zudem dabei helfen, komplexe medizinische Informationen in eine visuelle Sprache zu „übersetzen“, die User*innen der App leicht verstehen können: „Wir planen, patient*innenfreundliche Visualisierungen verschiedener Arten von Gesundheitsdaten zu erstellen. Zum Beispiel könnten wir AI-generiertes Cinematic Rendering nutzen, um ihre Anatomie darzustellen“, erklärt die Wissenschaftlerin.
Was ist Cinematic Rendering?
Dann muss Shikha ins nächste Meeting: Als Projektleiterin hat sie regelmäßig Video-Calls mit ihrem internationalen Kernteam, um sich über den aktuellen Status und die nächsten Entwicklungsschritte für die App abzustimmen. Die Arbeitsteilung ist komplex: Unter anderem arbeitet sie mit internen Expert*innen für medizinische Bildanalyse, maschinelles Lernen, Software-Engineering und Natural Language Processing zusammen.
Was ist Natural Language Processing (NLP)?
Ein weit verzweigtes Netzwerk aus Expert*innen
- Eine digitale Lösung wie der Digital Twin kann durch unterschiedliche Arten des geistigen Eigentums geschützt werden: Designs schützen die grafische Benutzeroberfläche. Das Urheberrecht schützt das konkrete Werk – also im Fall von Software den Programmiercode. Das Urheberrecht schützt jedoch nicht die Funktionalität: Dafür ist das Patentrecht zuständig. Denn durch Patente können auch breitere technische Konzepte geschützt werden – wie eben der Zusammenschluss vormals fragmentierter Daten zu einem Digital Twin. Auf Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen basierende technische Lösungen lassen sich ebenfalls durch Patente absichern. Insgesamt hält Siemens Healthineers über 800 Patente auf dem Gebiet des maschinellen Lernens.
Mit Kund*innen und externen Partner*innen tauschen sich Shikha und ihr Team ebenfalls regelmäßig aus: Denn alles, was sie im Rahmen der App entwickeln, soll später in der medizinischen Praxis Sinn machen und realen Anforderungen entsprechen. „Wir treffen uns zum Beispiel mit Mediziner*innen aus Krankenhäusern und anderen medizinischen Zentren. Mit ihnen sprechen wir sowohl über die technischen Aspekte unseres Projekts als auch über gemeinsame Visionen zum Thema Patient Twinning“, erzählt Shikha. Die Möglichkeiten, in welche Richtungen man das bewusst offen gehaltene Konzept weiter entwickeln könne, seien riesig. Das Interesse bei den Kund*innen an Patient Twin-Lösungen ebenfalls: „Darin liegt die Zukunft, da sind sich viele einig.“
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Viele Medtech-Expert*innen sehen in Patient Twinning den Schlüssel zur personalisierten Präzisionsmedizin. Von solchen Lösungen könnten Patient*innen in den unterschiedlichsten Krankheitsfeldern profitieren.
Unabhängiger von Ort und Zeit
Mit KI-Unterstützung könnten User*innen zu ihren eigenen „Gesundheitsmanager*innen“ werden. Patient-Twinning-Lösungen könnten in der Stadt so gut funktionieren wie auf dem Land. Sie könnten somit die Versorgung mit relevanten medizinischen Informationen unabhängiger von Ort und Zeit machen.
Die durch KI umfassenden und übersichtlich aufbereiteten Informationen könnte Mediziner*innen bei der Diagnosefindung unterstützen, wertvolle Zeit sparen, und im Idealfall dazu beitragen, dass User*innen gar nicht erst zu Patient*innen werden:
Ernsthafte Erkrankungen durch frühzeitige Prävention verhindern?
„Darin liegt vielleicht der größte Vorteil der Patient-Twinning-Technologie: Dass sie durch effektive Präventivmaßnahmen helfen könnte, zu verhindern, dass Menschen überhaupt erst ernsthaft krank werden“, sagt Shikha. Denn wenn der Zustand des*der User*in permanent gemonitort werde, könne bei Verschlechterungen zeitnah eingegriffen werden.
Wann genau eine Lösung wie die App, an der Shikha Chaganti mit ihrem Team forscht, marktreif ist, ist noch nicht absehbar. Doch irgendwann einmal könnte eine digitale Shikha wie die, die gerade noch etwas ruckelig vom Smartphone-Screen aus winkt, vielleicht der „echten“ Shikha zu einer schnelleren und präziseren Diagnose verhelfen. Und das könnte für die „echte“ Shikha sehr entscheidend sein.
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Katja Gäbelein ist Redakteurin in der Unternehmenskommunikation bei Siemens Healthineers und spezialisiert auf Technologie- und Innovationsthemen. Sie arbeitet als Autorin für Text und Film.
Redaktionsassistenz: Guadalupe Sanchez
- References
[1] Gethmann, Carl Friedrich; Buxmann, Peter; Distelrah, Julia; Humm, Bernhard G.; Lingner, Stephan; Nitsch, Verena; Schmidt, Jan C.; Spiecker (Döhmann), Indra (2022): Künstliche Intelligenz in der Forschung – Neue Möglichkeiten und Herausforderungen für die Wissenschaft. ("Artificial intelligence in research – New opportunities and challenges for science") Berlin: Springer. P. 8:
[2] https://www.healthcare-computing.de/was-ist-fast-healthcare-interoperability-resources-fhir-a-903586/ - Disclaimer
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