#Futureshaper

Shikhas Weg zum "Patient Twin"

Computer Scientist Shikha Chaganti forscht in Princeton an einer Smartphone App. User*innen sollen damit einen „Gesundheits-Avatar“ von sich selbst erstellen können – erschaffen durch Künstliche Intelligenz. Ein weiterer Schritt hin zum visionären „Patient Twin“? Mehr in Teil vier unserer Serie #Futureshaper.
7min
Katja Gäbelein
Veröffentlicht am June 14, 2022

Vom Screen des Smartphones winkt eine digitale Miniatur-Shikha. Ein wenig ruckelig wirken ihre Bewegungen noch, doch die optische Ähnlichkeit zur „echten“ Shikha ist unübersehbar.

Der prüfende Blick der „echten“ Shikha pendelt währenddessen zwischen dem Smartphone mit dem Avatar und dem Screen ihres Rechners, auf dem sich Programmiercodes und Datenauswertungen zu kryptisch aussehenden Gebilden formen. 

Shikha Chaganti ist Research and Technology Manager im Team „Digital Technology & Innovation“ bei Siemens Healthineers am Standort in Princeton im US-Bundesstaat New Jersey. Die heute 34-jährige gebürtige Inderin kam 2019 zu Siemens Healthineers. Das war kurz nachdem sie ihren Doktortitel in Computer Science, also Informatik, mit Spezialisierung auf medizinische Bildanalyse von der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, verliehen bekommen hatte.


#Futureshaper: Shikha's journey to the "patient twin" - Shikha portrait

Das Fokusthema des Teams in Princeton: Künstliche Intelligenz[1]. Seit Frühjahr 2021 leitet die Wissenschaftlerin das Forschungsprojekt „My Digital Twin“. Das ehrgeizige Ziel: Mit einer App fürs Mobiltelefon der Vision eines digitalen Patient*innenzwillings einen Schritt näher kommen.

„Künstliche Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit von Computersystemen, auf sie zugeschnittene Aufgaben selbsttätig zu lösen, die aufgrund ihrer Komplexität bislang menschliche Fähigkeiten erforderten.“

Aber warum brauchen wir eine solche App? Und warum überhaupt wäre Patient Twinning eine erstrebenswerte Zukunftstechnologie? 

„Im derzeitigen System ist der*die Patient*in oft der*die Hüter*in der eigenen medizinischen Daten“, erklärt Shikha im #Futureshaper-Interview: „Wenn ich als Patient*in Krankheitssymptome habe, muss ich häufig mehrere Spezialist*innen aufsuchen, bis ich die korrekte Diagnose bekomme. Ich muss Unmengen von Papier oder CDs mit Testergebnissen und Notizen von einem Arztbesuch zum nächsten mitnehmen. Ich muss mir genau merken, welche Symptome ich habe, wann ich sie zum ersten Mal bemerkt haben. Und ich muss die Ergebnisse der Tests weitergeben, die die vorherigen Spezialist*innen angeordnet hatten.“ 

Dieser Status quo birgt Risiken – denn nur ein*e Mediziner*in, der*die alle relevanten Informationen hat, kann eine exakte Diagnose stellen und die richtigen therapeutischen Maßnahmen einleiten: „Im schlimmsten Fall bekommen die Patient*innen die notwendige Therapie nicht rechtzeitig, was weit reichende Folgen haben kann.“

Ob technische*r Entwickler*in, kreative*r Business-Manager*in oder Produktdesigner*in: In unserer #Futureshaper-Reihe stellen wir Ihnen Mitarbeiter*innen vor, die mit ihren innovativen Ideen dazu beitragen, Pionierarbeit im Gesundheitswesen zu leisten.
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#Futureshaper: Shikha's journey to the "patient twin"
Shikhas Gesicht wird sehr ernst, wenn sie über dieses Thema spricht. Leider gab es in ihrem privaten Umfeld genau solche Fälle, in denen die korrekte Diagnose und Therapie für eine Heilung zu spät kamen. Sicher ein Grund mehr, warum sie sich so engagiert für die Entwicklung der App einsetzt.

Zwar würden heute schon gesundheitsbezogene Daten gesammelt, auch in Echtzeit, beispielsweise mithilfe einer Smartwatch, erklärt Shikha: „Wie aktiv warst du heute, wie viele Schritte bist du gegangen? Welche Herzfrequenz hast Du?“ Doch diese Daten verblieben in ihren eigenen, abgegrenzten Datensilos, so wie viele andere Daten, zum Beispiel aus medizinischer Bildgebung oder Labortests. Sie würden bislang nicht an einer zentralen Stelle zusammengebracht, um ganzheitliche Einblicke über den Gesundheitszustand der jeweiligen Person zu ermöglichen.

Es sei die Idee, reibungslos ineinandergreifende Prozesse zur Erfassung solcher Daten zu schaffen, so dass Informationen aus verschiedenen Quellen miteinander in Verbindung gesetzt werden können, um darin übergeordnete Muster zu erkennen. In dem digitalen Patient*innenmodell auf der App könnten einst alle Gesundheits- und Wellnessdaten der jeweiligen Person zusammengeführt werden: jederzeit und überall abrufbar – auch in Notfallsituationen, wenn es schnell gehen muss. Und kontinuierlich aktualisierbar – auf Wunsch lebenslang.

Als Datensilo bezeichnet man Datenbestände, die an verschiedenen Orten gespeichert sind, auf die nur bestimmte organisatorische Bereiche oder Nutzer*innengruppen Zugriff haben.
Auf der Oberfläche, dem Front End der App, repräsentiert ein digitaler Avatar die jeweilige Person. Der Avatar wird mithilfe Künstlicher Intelligenz auf Basis eines einfachen Selfies generiert. Dieser digitale Zwilling, der genau so aussieht wie die „echte“ Person, ist mehr als eine nette Spielerei: „Wir möchten, dass sich die User*innen mit ihrem Digital Twin identifizieren können. Das soll dazu beitragen, dass sie die Anwendung durchgängig nutzen“, erklärt Shikha die Intention des Konzepts
A people-centric innovation method that serves to solve problems and develop new ideas. Interdisciplinary teams pursue their work based on a multi-stage creative process. The goal is to find the best solution for users.

"Das Patient*innenmodell könnte sämtliche Gesundheitsdaten nutzen, die den Patient*innen zur Verfügung stehen, so dass sie bei ihrem Genesungsprozess individuell betreut werden können", sagt Shikha. Die App werde sich im Back End mit verschiedenen Datensilos verbinden, um ein möglichst umfassendes Bild der Gesundheits- und Wellnessdaten der Person zu ermöglichen. Zum Beispiel eben mit der Smartwatch, die in Echtzeit Informationen über physische Aktivität und Vitalzeichen liefert. Zudem wird die App den FHIR®[2] Standard unterstützen. Auf diese Weise wird sie sich mit PACS-Systemen in Kliniken verbinden können, um medizinische Bilddaten des*der Patient*in zu erhalten.

FHIR steht für “Fast Healthcare Interoperability Resources”. Es ist ein Standard, der den Datenaustausch zwischen verschiedenen Softwaresystemen innerhalb des Gesundheitswesens unterstützt.

Auch mit EHR-Servern soll sich die App so verbinden können, so dass Daten über bereits erfolgte Untersuchungen, einzunehmende Medikamente, Laboruntersuchungen usw. mit in das digitale Patient*innenmodell einfließen. 

Ergänzend kann der*die User*in eigene persönliche Daten manuell in die App eingeben, zum Beispiel eine Art „Gesundheitstagebuch“ über seinen*ihren aktuellen Gesundheitszustand und auftretende Symptome führen.

EHR steht für „Electronic Health Record“, also Elektronische Gesundheitsakte. Es ist eine Datenbank, in der Gesundheitsdaten von Krankenversicherten über medizinische Vorgeschichte, Behandlungen, Medikamente, Allergien etc. gespeichert werden können.

Mit einigen Tipps mit dem Zeigefinger gibt Shikha in den Einstellungen der App neue Gewichtsdaten für den Avatar ein – und schon sorgt die KI dafür, dass er so aussieht, als hätte er ein paar Kilos zugenommen. Der Avatar lässt sich auf der Oberfläche analog zum echten Menschen verändern. 

Auch im Hintergrund „wächst“ das Patient*innenmodell kontinuierlich in der digitalen Welt, gespeist von den Daten des*der User*in: Das personalisierte digitale Zwillingsmodell des*der User*in wird mit jeder neuen Untersuchung, jedem neuen medizinischen Datensatz aktualisiert. Jede für den Genesungsprozess relevante Information wird dynamisch upgedatet.

Bei der Forschung an der App geht es jedoch um weit mehr als das Sammeln und Speichern von Daten: Es geht darum, aus diesen Daten heraus neue Erkenntnisse für den*die Nutzer*in zu generieren, damit darauf basierend bei Bedarf konkrete medizinischen Maßnahmen unternommen werden können. Künstliche Intelligenz spiele hier als ordnendes Element die Schlüsselrolle, sagt Shikha: „Sie könnte beispielsweise alle medizinischen Daten intelligent zusammenfassen und den kompletten Krankheitsverlauf eines*r Patient*in übersichtlich darstellen.“

Die KI soll den User*innen künftig zudem dabei helfen, komplexe medizinische Informationen in eine visuelle Sprache zu „übersetzen“, die User*innen der App leicht verstehen können: „Wir planen, patient*innenfreundliche Visualisierungen verschiedener Arten von Gesundheitsdaten zu erstellen. Zum Beispiel könnten wir AI-generiertes Cinematic Rendering nutzen, um ihre Anatomie darzustellen“, erklärt die Wissenschaftlerin.

Eine neue 3D-Visualisierungstechnologie. Sie nutzt Daten aus bildgebenden Systemen, um fotorealistische Bilder und Videos zu erstellen. Das Innere des Körpers wird so deutlich dargestellt, dass auch Patient*innen die Bilder verstehen können.
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Dann muss Shikha ins nächste Meeting: Als Projektleiterin hat sie regelmäßig Video-Calls mit ihrem internationalen Kernteam, um sich über den aktuellen Status und die nächsten Entwicklungsschritte für die App abzustimmen. Die Arbeitsteilung ist komplex: Unter anderem arbeitet sie mit internen Expert*innen für medizinische Bildanalyse, maschinelles Lernen, Software-Engineering und Natural Language Processing zusammen.

Natural Language Processing ist ein Teilgebiet der Linguistik, der Informatik sowie der Forschung zur Künstlichen Intelligenz. Ziel ist eine direkte Kommunikation zwischen Mensch und Computer auf Basis der natürlichen Sprache.
#Futureshaper: Shikha's journey to the "patient twin" - A comprehensive network of experts
Je nachdem, um welchen Entwicklungsaspekt es gerade geht, klinken sich weitere Expert*innen ein: Zum Beispiel aus dem unternehmensinternen Data Privacy Office, das sich speziell um das Thema Datenschutz kümmert. Denn natürlich muss jederzeit und überall gewährleistet sein, dass die sensiblen persönlichen Daten der späteren App-User*innen sicher sind. Auch Patentanwält*innen aus der Abteilung „Intellectual Property“ sind eng in den Prozess eingebunden. Sie kümmern sich um den Schutz des geistigen Eigentums. Bei Digital Twin-Konzepten eine vielschichtige Aufgabe:

Mit Kund*innen und externen Partner*innen tauschen sich Shikha und ihr Team ebenfalls regelmäßig aus: Denn alles, was sie im Rahmen der App entwickeln, soll später in der medizinischen Praxis Sinn machen und realen Anforderungen entsprechen. „Wir treffen uns zum Beispiel mit Mediziner*innen aus Krankenhäusern und anderen medizinischen Zentren. Mit ihnen sprechen wir sowohl über die technischen Aspekte unseres Projekts als auch über gemeinsame Visionen zum Thema Patient Twinning“, erzählt Shikha. Die Möglichkeiten, in welche Richtungen man das bewusst offen gehaltene Konzept weiter entwickeln könne, seien riesig. Das Interesse bei den Kund*innen an Patient Twin-Lösungen ebenfalls: „Darin liegt die Zukunft, da sind sich viele einig.“

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Hier finden Sie einen Artikel über erste Erfolge im Bereich Digital Twinning und Herausforderungen auf dem Weg zum Digitalen Patient*innenzwilling.

Viele Medtech-Expert*innen sehen in Patient Twinning den Schlüssel zur personalisierten Präzisionsmedizin. Von solchen Lösungen könnten Patient*innen in den unterschiedlichsten Krankheitsfeldern profitieren. 

Unabhängiger von Ort und Zeit

Mit KI-Unterstützung könnten User*innen zu ihren eigenen „Gesundheitsmanager*innen“ werden. Patient-Twinning-Lösungen könnten in der Stadt so gut funktionieren wie auf dem Land. Sie könnten somit die Versorgung mit relevanten medizinischen Informationen unabhängiger von Ort und Zeit machen.

Die durch KI umfassenden und übersichtlich aufbereiteten Informationen könnte Mediziner*innen bei der Diagnosefindung unterstützen, wertvolle Zeit sparen, und im Idealfall dazu beitragen, dass User*innen gar nicht erst zu Patient*innen werden:

#Futureshaper: Shikha's journey to the "patient twin"

„Darin liegt vielleicht der größte Vorteil der Patient-Twinning-Technologie: Dass sie durch effektive Präventivmaßnahmen helfen könnte, zu verhindern, dass Menschen überhaupt erst ernsthaft krank werden“, sagt Shikha. Denn wenn der Zustand des*der User*in permanent gemonitort werde, könne bei Verschlechterungen zeitnah eingegriffen werden. 

Wann genau eine Lösung wie die App, an der Shikha Chaganti mit ihrem Team forscht, marktreif ist, ist noch nicht absehbar. Doch irgendwann einmal könnte eine digitale Shikha wie die, die gerade noch etwas ruckelig vom Smartphone-Screen aus winkt, vielleicht der „echten“ Shikha zu einer schnelleren und präziseren Diagnose verhelfen. Und das könnte für die „echte“ Shikha sehr entscheidend sein.


Von Katja Gäbelein

Katja Gäbelein ist Redakteurin in der Unternehmenskommunikation bei Siemens Healthineers und spezialisiert auf Technologie- und Innovationsthemen. Sie arbeitet als Autorin für Text und Film.

Redaktionsassistenz: Guadalupe Sanchez